Moritz
Moritz ist in den Jahren des Mauerfalls in einem Bezirk Ostberlins geboren, in dem sich in der Nachwendezeit ein relativ starkes Aufkommen an Rechtsextremismus entwickeln würde. Seine Eltern sind seit seinen frühen Kindertagen geschieden, der mehrere Jahre ältere Bruder ist schon früh selbständig. Vor allem zu Beginn seiner Berufsausbildung in Dresden ab seinem 16. Lebensjahr wird sich Moritz, wie er sagt, „zum ersten und letzten Mal radikalisieren“. Er ist dort aktiv in eine rechtsextrem orientierte Gruppe eingebunden. In einer sehr labilen und mitunter von Depression gezeichneten Phase dieser Zeit war Moritz dann auch an „einigen sehr unschönen Szenen“ beteiligt, die mit Alkohol, Aggressivität und körperlicher Gewalt zu tun hatten – und die er heute zutiefst bereut. Eine dieser Taten hatte ein gerichtliches Verfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung zur Folge, das Moritz‘ Berufseinstieg hätte gefährden können.
Andererseits hat Moritz die Jahre der Ausbildung und extremistischen Aktivitäten auch als eine euphorische Befreiung erlebt, die ihm unverzichtbare persönliche Entwicklungsimpulse gegeben hat. Er schätzte vor allem die unbeschwerte und zwanglose Begegnung mit unterschiedlichen Subkulturen und Nationalitäten im rechten Umfeld, die unwiderstehliche Faszination von Fackelzug, Gleichschritt und Volkstrauer – sowie eine bisher ungekannt Meinungsfreiheit und Debattier-Lust, die sich positiv von seiner Erfahrung in der Schule abhob. Seine Lehrer*innen hat der sehr an Geschichte interessierte Moritz überwiegend als dogmatisch links oder als desinteressiert wahrgenommen: „Leute die einem zuhören, das fehlte einem ganz dolle“ – und die „pädagogische Schutzhaltung“ wäre gänzlich abwesend gewesen. Auch konnte Moritz als „Sonderling“ zu seinen Mitschüler*innen kaum freundschaftliche Beziehungen knüpfen. Als umso wichtiger empfindet Moritz seine Lehrjahre, wenngleich diese auch unerhört anstrengend waren, so dass man „wie ein Frontsoldat im Schützenfeuer seinen Mann stehen musste … und nicht zerbrechen durfte.“ Jedoch in einem „festen Kreis“ seiner Bekannten/ Kumpeln und Freund*innen – „was ich vorher nie hatte“ – konnte er all das mit großem persönlichem Gewinn bewältigen.
Moritz‘ mehrere Jahre älterer Bruder war früh zu einem aktiven Teil der rechtsextremen Neonazi-Bewegung im Bezirk geworden und ist der Szene auch heute noch verbunden. Der Einfluss des charismatischen, manchmal arroganten und mit beißendem Intellekt sprechenden Bruders war zwar eher unbeabsichtigt und indirekt, was jedoch die Faszination auf Moritz nur umso mehr verstärkte. Insbesondere der Eintritt des Bruders in eine rechtsextrem geneigte Burschenschaft hat Moritz beeindruckt; dies hatte manchmal auch konkrete Hilfestellungen für sein berufliches Fortkommen zur Folge. Die Bemühungen seiner Mutter, ihn davon zu überzeugen, dass seine politische Orientierung falsch ist, erlebte Moritz als fruchtlos, nervig und belastend. Mit dem Vater, der mit dem SED-Staat der DDR fest verbunden oder zumindest gut arrangiert gewesen zu sein schien, konnte man über dergleichen nicht reden. Einzig mit den durch Kriegs- und Fluchterlebnisse geprägten Großeltern war ein anregendes Gespräch möglich Überhaupt war das Verhältnis zum Vater schwierig, denn „man war ihm nie gut genug“, und er war im Grunde „nie da, wenn man ihn brauchte“. Aber die NVA-Geschichten des Vaters hörte sich Moritz stets sehr gerne an – und empfand tiefen Respekt vor der „Zähne-zusammenbeißenden“ Disziplin des damaligen Lebens.
Heute, mit Mitte zwanzig, ist Moritz geläutert. Gleichwohl würde er „eine 180-Grand-Wende“ für sich nicht als stimmig erachten. Denn auch heute noch läuft alles Sozialistische und Sozialdemokratische seinem persönlichen Sinn für Selbstverantwortung und Disziplin zuwider – und bei diesen Themen kann er sich manchmal immer noch „richtig rein steigern“. Mit seinen Jahren in Extremismus und Aggression hat Moritz jedoch abgeschlossen. Dass er das konnte, führt er auf die Horizonterweiterung durch seine beruflichen Auslandserfahrungen – auch in einem arabischen Land – und auch auf eine langsam einsetzende Enttäuschung und Langeweile über die extremistische Szene zurück. Auch die Begegnung mit Polizei und Rechtsstaat und insbesondere die unverbrüchliche Unterstützung durch seine Mutter, ohne die er „in der Gosse gelandet wäre“, waren entscheidend. Ferner haben Moritz‘ Interesse an Geschichte und an der Literatur der Freicorps-Zeit (Ernst Jünger u.a.) sowie seine Vorliebe für die „recht zwiespältige“ Black Metal-Musik dazu beigetragen, dass er sich heute von keiner Seite mehr „zur politischen Hure machen lässt“. Einen ausgeprägten Humor und „dass ich diese Rassegedanken … und die Welt von Feindbildern … los bin“, empfindet Moritz mit große Erleichterung und Erweiterung. So ist Moritz zum Zeitpunkt der Interviews mit seiner beruflichen Arbeit sehr zufrieden, lebt mit seiner Freundin zusammen, die der sächsischen Antifa nahe stand, und blickt hoffnungsvoll der Gründung einer eigenen Familie entgegen.